Ganz oben unter Schnürboden
Des multimedialen Dramas zweiter Aufzug, zweiter Teil
Lovis Löwenthal, Ingo Munz und Johann Wolfgang von Goethe hängen ganz oben unterm Schnürboden
JWvG:
Isch werd dem verantwordlischen Eumel eins übern Latz ziehn!
Inzwischen ging auf der Bühne das Licht an und wieder aus: Szenenwechsel! Die Hexenküche ist ein Coffee Shop. Man lauscht den Versen:
Au! Au! Au! Au!
Verdammtes Tier! Verfluchte Sau!
Versäumst den Kessel, versengst die Frau!
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Man lauscht den Versen: Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion? | |
JWvG | Gugge Se, die Gretschenfrahch, die inderessiert die Leut! Mir bersönlisch is des woscht, obs denn da obbe gibt un ob der vielleischt Briefdaube züchschded odder sisch ein nach’m annern runnerholt. Abber für die Gleingeister is des genau des Rischtische, un für die Literadur, da gehörn solsche Geschischte genau nei, da könne se so‘n Scheiß erzähle. Sie müsse nur uffbasse, dass Se net vermische, also des Wischtische, des was wecklisch zählt, des was die Welt im Innerschten zusammehält, dass Se des net vermische mit dem abbergläubischen Scheiß. Den müsse Se in die Lideradur backe. Des annere, des Handfeste, des backe Se in Uffsätz. Des Wecklische in Uffsätz un den annern Scheiß in die Lideradur. Wenn Se beide Sache vermische duhn, schmeckts wie en drockener Fotz! | |
LL | Wie schmeckt denn ein trockener Furz? | |
JWvG | Ihr Schlabbesebbel! Schlabbesebbel seid er! Isch habb gefoscht, die Nadur hab isch unnersucht. Denn Zwischekieferknoche hab isch unnersucht un habb die Lehre von de Fabbe erfunne. Des hatt misch scho immer mehr als die annern Sache indressiert. | |
IM | Hier genau bin ich skeptisch. Was sind Sie denn nun und wo liegen Ihre Leidenschaften? Heutzutage läuft es genauso. Spezialisieren will sich keiner mehr. Plötzlich beginnen die Maler zu schreiben und die Dichter zu malen. Ganz große Fotografen scheinen mittlerweile ohnehin alle zu sein. Ja, sein Handwerk vervollkommnen, das ist aus der Mode gekommen. Nach der dritten Regie, nach dem dritten Gedicht und der dritten Erzählung scheinen bereits alle ihre Kunst durchdrungen zu haben. (laut, sehr laut) Das ist doch der Hauptgrund, weshalb zwar immer mehr stattfindet, aber kaum noch etwas geschieht! | |
Man lauscht den Versen:Quid sum miser tunc dicturus? Nachbarin! Euer Fläschchen!– | ||
IM | Nachbarin! Euer Fläschchen. Du meine Güte… | |
JWvG | Isch habs doch scho zugegebbe, also dass net alles Gold is, was glänzt. Ach des hätt isch überabbeide müsse. Un Sie hamm ja Rescht: Der Gleist hat besser dischte könne. Ja, isch wüsst wecklisch net, wie ma Pendesilea in ahn Jambus packe könnt. | |
LL | Woher, um Gottes willen, wissen Sie, worüber wir gesprochen haben? | |
JWvG | Isch krieg halt noch immer viel mit! Isch bin doch, ihr Schlabbesebbel, der Göhde! Und isch will ihne noch was sache, schberrt e mal schön die Lauscher uff: Der Gleist, der heut nauf un nab gschbielt werd, der is zwar gud, abber an den Empedokles vom Hölderlin kommt er ach net dran! Des is Dischtung vom erschte bis zum letzte Buchstab. Da staubt‘s aus de Zeile, da zwickts dir ins Hern! Abber den habbe se net verstanne. Un wist ihr warum? Weil er vermischt hatt, das Wischtische mit de Lideradur. Damit kommst de net ahn bei de Leut, ums noche mal zu sache. | |
IM | Das Konkrete ist zu banal und in Unergründlichkeit erstirbt das Abstrakte! | |
LL | Heiliger Strohsack! Wie war das? | |
IM | Das Konkrete ist zu banal und in Unergründlichkeit erstirbt das Abstrakte! Will sagen: Wie man’s auch macht, man macht es verkehrt. Aber, Herr Geheimrat, wenn ich’s schon falsch mache, dann soll es wenigstens Mumm haben. Dann soll es wenigstens Stellung beziehen und politisch sein und etwas voran bringen wollen. Ich weiß, dass dieser Ansicht ein Fortschrittsglaube innewohnt und ich weiß auch, dass ich nur diffuse Vorstellungen davon habe, wie solch ein Fortschritt aussehen könnte, aber, ein Dichterfürst ohne Glaube an den Fortschritt ist so lächerlich wie einer, der dem Publikum gefallen will. | |
JWvG | Sie meine also, wenn Se politisch wern, dann geht’s audomadisch darum, dass die Leut mehr zum Beisse habbe? | |
IM | Ich meine, dass das Theater politisch sein muss. | |
JWvG | Un die Brosa? | |
IM | Die selbstverständlich auch. | |
vgl. dazu: »Lyrisches Verständnis«; | LL | Die Lyrik aber hat Narrenfreiheit, oder? |
IM | Nein, gerade die nicht! | |
JWvG | Glaube Se wecklisch, der blöd Schiller hätt an den Scheiß geglaubt, den er in de Bürgschaft verzapft hatt? Dass die Leut so gud sein könne un dadsächlisch ihr Lebbe eisetze für en anneres? Der wollt gefalle, der wollt den Abblaus un den hatt er ja ach bekomme. Wie Sie, Herr Munz, mit Ihrm schmeichelhafde Dürekonzert. | |
Man lauscht den Versen: Wer mag wohl überhaupt jetzt eine Schrift Von mäßig klugem Inhalt lesen! Und was das liebe junge Volk betrifft, Das ist noch nie so naseweis gewesen. | ||
LL | Naseweis hin, naseweis her: Theater muss Opposition sein! | |
JWvG | Ei Sie sinn wecklisch ein ganz Schlauer, gell? Sache Se mer mol, wie des funktioniere soll? Kahn Mensch geht wecklisch in Obbosition zu demm, der ihn bezahld. Wes Brod isch ess, Herr Löwenthal, des Lied isch sing! Deshalb is ja grad amm Deahder, am subventionierde, ka Obbosition möglisch! | |
IM | Da ist natürlich etwas dran. Gerade habe ich teilgenommen an einem Stückewettbewerb des Schauspiels Essen. In der Ausschreibung heißt es, man suche Stücke zum Thema neu erwachte Protestkultur, man suche Stücke zum Thema ziviler Ungehorsam, Demokratie und Volkszorn. Man suche Formen des – Achtung! – bürgerlichen Widerstands. | |
LL | Bürgerlicher Widerstand – unerhört! | |
JWvG | Bürgerlicher Widerstand – ein Witz! | |
IM | Ein Treppenwitz! Wir leben in einem System, das sich ständig auffordert, gegen sich selbst zu revoltieren. Wie wenn einer jeden Tag fünf Pullen Whiskey söffe, um sich zu beweisen, dass er keine sechs braucht. Ist das nicht höchst suspekt? Revolten auf bürgerliche Art und Weise, was heißt das denn? Heißt das, Revolutionen entfachen, ohne den Bürgersteig zu verlassen, mit funktionierendem Rücklicht und einem gültigen Personalausweis? In diesen Zeitgeist passt übrigens hervorragend das Bestsellerchen des Franzosen Stéphane Hessel, dieses Heftchen, dieser Steinzeit-Konservatismus eines so genannten Demokraten, der mit seinem lächerlichen Appell an die degenerierten Leidenschaften des Homo oeconomicus suggerieren möchte, man lebe in einem freien Land. Über derlei Spitzfindigkeiten kann ich nur lachen oder weinen, tausend Tränen. Und womit, Lovis? | |
LL | Mit Recht! | |
IM | Stichwortgeber, sag ich doch. | |
JWvG | Gucke Se! Jetzt wern Se abber ach zu gwschätzig. Mir müsse zusehn, dass was bassiert. Wie heißt des Stück noch gleich? | |
LL | Ganz oben unterm Schnürboden. | |
JWvG | Is ja ach woscht! Jedenfalls könne ma die blöd Scher e mal wegpagge, denn jetz wern mer mal bolitisch, e mal rischtisch bolitisch. Hier hab isch ein Spuckrohr. Hatt ned jemand drockene Ebbse dabei? | |
IM | Freilisch, immer! | |
IM reicht JWvG einen Beutel trockener Erbsen. | ||
JWvG | Sauber, subber, fandasdisch! Dann könne mer ja endlisch ahnfange, uff geht’s, wie sellemols am Ararat. | |
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IM | Das Arche Noah-Prinzip? |
JWvG | Rischtisch! | |
Er nimmt eine Ladung Erbsen in den Mund und zielt mit dem Spuckrohr ins Publikum. | ||
JWvG | Da unne, seht er denn? Der schafft bei Siemens, MBB oder weiß der Deibel wo, is’n hohes Dier un beschteschlisch bis unner die Dachladde. (spuckt) Der hatt gsesse! Un nebbedran, sein Kumbel, ach ein hohes Dier, verkauft ohne Skrubbel ahn Banzer nach’m annern in die so genannde Schurgeschtaade. (spuckt) Un dott, in de fünft Reih, der is kahn hohes Dier, is abber ach ein rischtischer Verbrescher, verkauft Versicherungen un legt sei Kunde bewusst aufs Kreuz, der weiß nämlisch ganz genau, dass er de Leud ein Scheißdreck unnerjubbelt. (spuckt) Un danebbe, sei Frau, hängt de ganze Daach in Caffees un Bjudisalongs rumm, kwatscht und lästert un stopft sisch ei Tord nach de annern nei un zuhaus veröde die Kinner. Kei Sau kümmert sisch um die. Die krieche a baar Euro in die Händ gedrückt und derfe zum Mc Donalds gehn. Die Kinner von denne beide sinn jetz scho so fett, dass se kaum dosch die Hausdür komme. (spuckt) Un da hinne, denn hab isch ja gfresse, den alde Sack, des is vielleischt ein Motzsdrum Aschloch, der war Schmutzfink bei de Scheißhaus-Bresse und hatt sellemols den Böll in die Eng getribbe, wisst er’s noch? (spuckt) Un da hinne, seht er die uffgetackelde Blondine, die schafft beim Fernsehn und schwatzt, ohne e schlechts Gwisse zu habbe, alde und dumme Leud tag ein, tag aus ein sündhaft deuren Scheißdregg an die Bagge.
vorgelesen vom Autor |
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Erneuter Szenenwechsel, Licht an, Licht aus: Mich faßt ein längst entwohnter Schauer, Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an. | ||
JWvG | Ach du liebe Güde, mir sin ja schon in der Kerger-Szehn! Mir müsse uns beeile, bei so viel Dreggsäu, die da unne rummhogge. Da hinne zum Beispiel, den kann isch ach beim beste Wille net verstehn. Der liest die so genannde Nachrischte beim Fernsehen, in de Tagesschau odder im Lügejournal. Isch versteh net, wie der ohne eine Regung jede Lüge eifach so von seim Bladd Babier ablese kann. Hatt der sein Hirn abgegebbe odder sein Hetz odder is des ga kahn Mensch, vielleischt ein Roboder? (spuckt) Un ganz links, der in dem grüne Bullover, der ferrt en ganz dickes Audo un hoggt da drinn wie ein Könisch und scheucht Fussgänger un Fahrradfahrer un annern Audos wie Hase dosch die Strahße, dieser Wischt mit seim klahne Schwanz! (spuckt) Un dott, dott lümmelt der, der sisch immer in die Bahn neidrängelt und alle annern pladd walzt, wie wenn er der ahnzische wäre uff de Welt. Ach dir schick isch einen Gruß. (spuckt)
vorgelesen vom Autor |
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Von der Bühne, sehr laut: Heinrich mir graut vor Dir. | ||
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In die Aufzählung hinein endet das Stück auf der Bühne und auch »Ganz oben unterm Schnürboden«. Es handelt sich um ein ganz undramatisches Ende. In die Worte des JWvG hinein werden Licht und Ton langsam gedimmt. Die Aufzählung kann beliebig lange fortgeführt werden. ENDE |